Der Fremdling in der eigenen Haut 1999



Ich erzähle Euch eine Geschichte aus dem Jahr 1999. Es ist eine kurze Geschichte, die nicht wahr ist und so auch nicht stattgefunden hat und die auch mit Dir gar nichts zu tun hat, denn sonst gäbe es ja keine Geschichten- oder?


Der Fremdling in der eigenen Haut
Als sich Gustav am frühen morgen schleichend durch den Nebel auf den Weg zu seiner Bushaltestelle machte, um zur Schule zu fahren, verspürte er wieder dieses beklemmende Gefühl, das er schon sehr lange kannte aber dafür noch keinen Namen hatte. Er versuchte wie jeden Morgen sich von diesem Gefühl abzulenken. Die aus dem Nebel auftauchenden Lichter der vorbei gleitenden Autos, blendeten ihn an diesem Morgen weniger. Mit seinen Augen erhaschte er die vorbeifahrenden Autolichter, kniff seine Augen halb zu und ließ ein Farbenspiel in seinem Gehirn entstehen.
Gustav spürte, irgendetwas ist heute anders. Seine Mutter hatte ihn wie jeden morgen geweckt, aber ihre Stimme klang traurig-gereizt und sein Vater hatte bereits seine stinkende Zigarette im Bad geraucht. Die Atmosphäre war nicht gerade herzlich, aber das war Gustav nicht anders gewohnt. Das Frühstücksgehetze wie das all morgendliche Schulgeleitgeschwätz seiner Mutter überhörte er inzwischen, so dass er mehr oder weniger halbschlafend seinen eigenen Gedanken nachhing, von denen er zwar wusste, dass sie da sind, die er aber nicht in Worte hätte fassen können.

    Während er sich seiner Bushaltesstelle näherte, erkannte er trotz des Nebels einige Konturen seiner Mitschüler, die wie er jeden morgen mit diesen ausdruckslosen Gesichtern auf den überfüllten Bus warteten, so als beträfe es sie gar nicht. Einige hatten wieder diese Stöpsel in den Ohren und ließen sich von Technorhythmen einlullen, wodurch sie sich von der Außenwelt fern hielten. Die Begrüßung war niemals wirklich persönlich, vielleicht erhaschte man einen kurzen nichts sagenden Blick, aber gesehen werden wollte man trotzdem. Gustav hatte den Eindruck, dass es eine halbe Ewigkeit dauerte bis endlich die lang ersehnten Lichter des Busses auftauchten und das bedrängt schweigende Warten beendeten. Wie gewöhnlich reihte er sich ein und bestieg als vierter oder fünfter den Bus. Mit unbeteiligter Miene nahm er seinen bekannten Stehplatz ein und wagte seine nervösen Blicke unter die Fahrgäste zu streuen in der Hoffnung, dass sie auch dieses Mal keine anderen Augen treffen würden. Gustav hatte es wieder einmal geschafft, den Augenblicken der anderen Fahrgäste ausweichend, seine Haltestelle zu erreichen.
   Noch als er die zischenden Schwingtüren des Busses hinter sich vernahm, klopfte ihm jemand auf die Schultern. Er zuckte zusammen, und die aufgebaute Spannung durchflutete seinen Körper wie schon lange nicht mehr. Nun geschah genau das, wovor er sich immer gefürchtet hatte. Mit eingezogenem Kopf schwenkte Gustav seinen ängstlichen Blick seitlich nach oben rechts und erblickte strahlende Augen und eine so klare und deutliche Stimme durchdrang seine Ohren, dass er im ersten Moment die Frage des Fremden nicht wirklich verstand. Es war für ihn eine Art von unheimlicher Begegnung, die zwar keine Bedrohung darstellte, aber unbewusst ahnte er, dass dieser Augenblick sein Leben verändern werde.
Er, „Gustav“, war direkt angesprochen worden, wie sollte er sich bloß verhalten, seine Zurückhaltung wurde einfach ignoriert, das war er nicht gewohnt. Dieser Fremde hatte sein Schutzschild durchbohrt und war dabei ihn dort aufzuspüren, wo er wirklich war. Es war weniger der Inhalt der Frage als vielmehr die Art und Weise wie dieser Mann ihn ins Visier genommen hatte. Leicht beklommen antwortete Gustav ausdruckslos auf die ihm wiederholt gestellte Frage. Der Mann bedankte sich freundlich bei ihm für die Wegbeschreibung und wünschte ihm, dass er seine eigene Fremdheit überwinden möge. Gustav wusste nicht, was er von diesen Worten halten sollte.
   Mit schwerem Gang ereilte Gustav eine Gruppe von Schülern, die mehr schleppend als zielstrebig das Schulgelände betraten. Wie gewöhnlich ertönte das Pausenzeichen, das sich durch den Dunst des Nebels quälte. Bekannte Stimmen und gewöhnliches Geplänkel vor dem Unterrichtsbeginn drängten in seine Ohren, ohne dass er sich dagegen zu wehren vermochte. Auch hier fühlte er eine tiefe Unbehaglichkeit, die sich doch von der sonst alltäglichen irgendwie unterschied.
   Gustav wollte das alles so nicht wahrnehmen, aber er spürte, dass er immer weniger Einfluss darauf hatte, wie sich ihm die Außen- und Innenwelt zeigte. Seine alte, ihm vertraute unbeteiligte Wahrnehmungsweise wollte sich einfach nicht mehr einstellen. Er fühlte Angst bei dem Gedanken, auf seine Wahrnehmung nur noch so wenig Einfluss zu haben. Seine Mitschüler waren in einem Gespräch verwickelt, von deren Inhalten er nur Fetzen aufnahm, erschrocken stellte er fest, dass er bereits seinen Klassenraum betreten hatte. Wie benommen ließ er sich auf seinem Stuhl nieder, für ihn war es anders, aber das wussten die anderen noch nicht. Gustav konzentrierte sich jetzt besonders angestrengt, packte einige Sachen aus seinem Ranzen und bedeckte damit seinen Tisch, auch dieses tat er zwar wie üblich, aber er erlebte es für sich als irgendwie seltsam.
Immer mehr drängte sich ihm der Gedanke auf, dass er vielleicht erkrankt sei und Fieber bekäme, wie es seine Mutter immer äußerte, wenn sie sich unpässlich fühlte. Diesen Gedanken verwarf er nach einer Weile, und andere noch nie gedachte Gedanken durchstreiften sein Gehirn, die er interessiert aufnahm. Er konnte es noch nicht zulassen, dass das seine Gedanken waren, die sich da in ihm bewegten. Mit großer Anstrengung versuchte er diese Gedanken abzuwehren. Dann bemerkte er und erschrak darüber, dass bereits der Lehrer mit dem Unterricht begonnen hatte. Sofort drängte es ihn sich zu fragen, wo er denn gewesen sei, dass er den Eintritt des Lehrers nicht unmittelbar mitbekommen hatte.
Es war ihm wieder einmal unheimlich, dass soviel in und um seinen Kopf herum passierte, ohne dass er darauf Einfluss zu haben schien. Seine Gedanken wechselten in regelmäßiger Abfolge zwischen dem was in ihm und der Umwelt vorging, ohne dass er sich dabei in der Lage fühlte die Dauer oder die Inhalte zu bestimmen, geschweige denn Verbindungen zwischen diesen Welten herstellen zu können. Es war, als wäre er ein Beobachter, der zwei Filme gleichzeitig schaute, sich aber nicht entscheiden könne, welchem der Filme er mehr Aufmerksamkeit schenken solle. Als er seinen Namen aus dem Munde des Lehrers vernahm, spürte er wie dieses Hin und Her ein Ende nahm.
Seine gewohnte Anspannung bei dem Ruf seines Namens verwandelte sich in eine, für ihn ungewöhnlich klare geistige Konzentration, die sich selbst steigerte als er sich dabei zuhörte, wie er den Lehrer um Wiederholung der Frage bat.
   Es durchzuckte ihn wie von einem Geistesblitz getroffen, und bevor er wahrgenommen hatte, was er sagen wollte, hatte er die Antwort umfassend und richtig formuliert. Es kam ihm so vor, als würde ein Anderer sprechen, nichts von dem, was jetzt geschah kam ihm bekannt vor.
Gustav fühlte sich als Fremder in seiner eigenen Haut. Es schien, als würde sein Gehirn von ganz allein arbeiten. Die sonstigen Warnungen, sich zurückzuhalten, waren wie ausgelöscht. Er fühlte eine tiefe innere Freiheit, aber dennoch war ihm das, was da mit ihm geschah, suspekt. Was sollte er nur tun, er selbst spürte wie ungewöhnlich es war und dass seine Mitschüler wie auch sein Lehrer verwundert reagierten, wunderte ihn ebenfalls nicht.
   Immer wieder hatte er das Gefühl, als würde sich sein Gehirn verselbständigen und führe seine Aufmerksamkeit wohin es wolle. Mit der Zeit schien es ihm weniger bedrohlich als vielmehr interessant, besonders als sich ihm immer wieder die Erinnerungen an den fremden Mann aufdrängten. Er spürte wie sich die Bilder in seinem Gehirn wiederholten, es war als würde Gustav die ganze Szene noch einmal erleben. Dieser herzenswarme Blick, die kraftvolle und wohlmeinende Stimme durchströmte sein ganzes Wesen als stünde dieser Mann noch immer an Gustavs Seite.
   In dieser Stimmung erinnerte er die fast vergessenen Worte des Fremden: „Überwinde Deine eigene Fremdheit!“ Seine ganze Aufmerksamkeit kreiste um diese Aussage. Immer wieder drängte es ihn in magischer Weise, das Gesagte innerlich zu wiederholen und sich zu fragen, was es bedeutete. Nebenbei bemerkte er zum ersten Mal bewusst, dass er durch das Denken über den Gruß des Fremden wie träumend von der Außenwelt abgeschnitten war, nur das er nicht träumte, sondern in ein tieferes Denken gelangte, dass er in dieser Weise noch nie erlebt hatte. Nichts hatte ihn jemals so ergriffen wie diese Begegnung. Dieses -InseinenGedankensein- war anders als die sonstigen Traumversuche, sich von der Umwelt abzuschneiden. In seinem Gehirn schien es zu kochen und zu brodeln als wäre er einer riesigen Erfindung auf der Spur. Etwas sagte in ihm, dieses könne nur er lösen, diese Aufgabe würde ihm niemand abnehmen können. Er war bereit sich dieser Herausforderung zu stellen. In seiner Klasse wurde er nicht weiter gestört, denn seine Zurückgezogenheit fiel auch sonst nicht auf, so dass er sich ungehindert diesen Gedanken hingeben konnte.
   In seiner Gedankenwelt wagte er jetzt den Vorstoß zu denken, es schien ihn zu beflügeln, die Gedanken reihten sich aneinander, ohne dass er sie zurückhielt oder gleich verwarf. So etwas hatte er noch nie erlebt, einen Gedankenfluss, der ihn zu einer Insel trieb, auf der er nicht wirklich zu erreichen war. Er spürte wie die Gedanken sich kräftigten, zum ersten Mal hatte er eine Ahnung davon, was Denken bedeuten kann. Es war lange her, dass er Fahrradfahren gelernt hatte, aber so ähnlich hatte sich Gustav auch damals gefühlt als er endlich sein Gleichgewicht gefunden hatte und frei die Allee hinunter fahren konnte. Jetzt konnte er anhalten, wann er wollte und fahren wie er wollte. Und jetzt erlebte Gustav, dass er sein eigenes Denken steuern konnte. Ein heimliches Glücksgefühl durchströmte ihn. Am liebsten hätte er es allen gleich gezeigt, wie damals sein Können auf dem Fahrrad, aber er ahnte, dass er mit dem, was ihm jetzt geschah, vorsichtiger sein musste. Denn nicht alle sehen es gern, wenn einer munter drauflos denkt.
    Gustavs Gedanken kreisten um die Wortbedeutung „eigene Fremdheit überwinden“. Ideen überfluteten sein Gehirn, die sich wie ein Lavastrom in einem Vulkan explosionsartig aufbäumen und unaufhaltsam den Berg überströmen, alles bedecken und in der Ebene noch lange kein Ende finden. Er versuchte diese Ideenfülle zu sortieren, und das seltsame, ungewöhnlich begleitende Gefühl der bewussten Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration durchströmte angenehm seinen Körper.
   Durch einige deutlich haften gebliebene Fragesequenzen: „Wie kann ich mir selbst ein Fremder sein? Was ist mir eigen? Was ist überwinden? Wie kann ich mir in meiner Eigenheit selbst fremd sein? Wie kann ich, wenn ich mir fremd bin, mich überwinden und mich selbst kennen lernen?“ wurde ihm ganz schwindelig und seine wie von selbst aufströmenden Antworten: „In meinem eigenen Dasein und Sosein bin ich mir fremd, auch wenn ich es gewohnt bin So-dazu-sein. Ich muss mich rückhaltlos in meiner Eigenart als Wesen erkennen, sonst bleibe ich mir fremd.“ ließ er wiederholt vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen. Er wusste, dass diese Gedanken noch unklar waren, und er ahnte, dass er hier weiter machen musste.
Der intuitiv aufsteigende Gedanke: „Ich bin mir in meiner Eigenart als menschliches Wesen aufgegeben“ durchflutete sein ganzes Wesen. Er verspürte eine innere Wandlung, die er sich nicht erklären konnte, wie berauscht erlebte Gustav eine ungeheure Leichtigkeit, die ihm eine Welt vorzauberte, wie er sie nie zuvor betrachtet hatte. Die steife und gewohnte Fremdheit wandelte sich in eine freie und ungewohnt kraftvolle Eigenart. Wie selbstvergessen stand Gustav von seinem Stuhl auf, bewegte sich mit einer graziösen Zielsicherheit zur Tafel, so dass der Lehrer von dieser Präsens so erstarrt war, dass er gar nicht hätte eingreifen können, selbst, wenn er es gewollt hätte. So stellte sich Gustav vor die Klasse, schaute seine wirklich erstaunten Mitschüler an, und sagte mit seiner alles durchströmenden Haltung: „Ich bin mir selbst fremd. Ich weiß nicht, wie mein Körper wirklich funktioniert. Ich weiß nicht, wie mein Gehirn arbeitet. Ich weiß nicht, wie ich zu meinen Ideen komme. Wir haben viele Worte, die wir benutzen und doch begreifen wir nicht das, was hinter den Worten steckt. Bis heute habe ich immer nur nachgedacht -im wahrsten Sinne des Wortes- nach anderen gedacht; jetzt weiß ich, dass wir vordenken müssen. Das Denken geschieht, wenn wir es zulassen. Wenn wir immer nur das sagen, was man hören will, so ist das kein Denken. Denken ist wie Fahrradfahren...“ Hier schwieg er und für einen Moment schien es so als hätten ihn alle verstanden. Danach begab er sich schweigend zu seinem Platz, die Augen seiner verwirrten Mitschüler verfolgten ihn, bis er sich hingesetzt hatte. Stille erfüllte kurze Zeit das Klassenzimmer. Geraune, aber auch seltsame Betroffenheit durchbrach diese Stille. Nachdem das erste Wort von seinen Zuhörern gesprochen worden war, wurde sich Gustav bewusst, was er gerade getan hatte. Er hatte es gewagt sein Denken mitzuteilen und das vor einem Publikum, das anderes gewohnt war und so etwas nie -und erst recht nicht von ihm- erwartet hätte. Nach einigen Stilleverjagenden Sprachaktionen seiner Mitschüler bemerkte Gustav eine tiefe Ruhe in sich, er verstand die Reaktionen und wusste, dass es wenig Sinn machte, sich zu rechtfertigen oder auch nur zu erklären was mit ihm vor sich gegangen war. Er wusste, wie fremd es für seine Mitschüler und seinem Lehrer sein musste, was er laut angedacht hatte.

   Nun war Gustav ein Fremdling in seiner Umgebung, das betrübte ihn, aber zurück in die eigene Fremde wollte er nicht mehr!

    So nun ist auch diese kurze Geschichte zu Ende und Deine Geschichte kann beginnen. Ich wünsche Dir eine wirklich gute Zeit und viele interessante Begegnungen in Deiner Lebensgeschichte…

Johannes Hoppe

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